Beatmungspatient Benni Over in Quarantäne – und damit seine ganze Familie
Wir – Sohn Benni (29), Eltern Connie und Klaus Over – sind wegen der Corona-Pandemie in freiwilliger Quarantäne, weil Benni zur sogenannten Corona-Risikogruppe gehört. Denn Benni ist an einem schleichenden Muskelschwund, der sogenannten Duchenne Muskeldystrophie, erkrankt. Er sitzt im Rollstuhl und wird seit über drei Jahren beatmet.
Wir verzichten freiwillig auf alle bisherigen, externen Hilfen: den Intensiv-Beatmungspflegedienst, die ambulanten Hilfen und die Therapeuten. Diese Arbeit – neben den existierenden Hilfeleistungen für Benni wie Körperhygiene, Essen reichen, zu Bett bringen und vieles mehr – haben wir jetzt zusätzlich übernommen. Wir machen, so gut es geht, jetzt alles selbst. Auch die für Benni so wichtigen Therapien – Physio- und Atemtherapie – müssen jetzt virtuell via Facetime stattfinden. Am Abend fallen wir todmüde ins Bett. Die Belastung für uns alle kann man sich als Nicht-Betroffener schwer vorstellen.
Nach jetzt fast drei Monaten der Isolation, machen sich schlechte Stimmung, Frust, körperliche Beschwerden bei Benni aufgrund fehlender, professioneller Therapien und auch Wut breit. Direkte, soziale Kontakte fehlen. Denn Online-Therapien, Skypen oder Facetime können zwar überbrücken, aber das direkte, vertraute Gespräch auf Dauer nicht ersetzen.
Bennis Projekt – Mit anderen Risikogruppen solidarisieren
Auch Bennis Projekt zur Rettung der Orang-Utans und deren Lebensraum, dem Regenwald, sowie sein Engagement für den Klimaschutz kann nicht mehr in gewohnter Weise stattfinden. Benni ist Orang-Utan-Botschafter. Dies ist zu seiner Lebensaufgabe geworden. Informationen dazu auf www.henry-rettet-den-regenwald.de.
Alle Schulveranstaltungen (ca. 40 in 2020) wurden abgesagt. Jetzt haben wir ein Online-Format erarbeitet und bieten LIVE-Online-Vorträge nicht nur für Schulen, sondern auch für Risikoeinrichtungen wie z.B. Alten- und Behinderteneinrichtungen an. „Wir müssen uns doch mit anderen Risikogruppen solidarisieren. Denn diese kommen kaum vor in der öffentlichen Diskussion oder in den Talk-Shows. Sie scheinen übersehen und vergessen worden zu sein“, so unsere Meinung.
Auch, wenn sich erste Ermüdungssymptome bemerkbar machen, so bleiben wir (noch) im „Aktiv-Modus“. Selbst das Malen für Teil 2 zu Bennis Kinderbuch „Henry rettet den Regenwald“ geht weiter; online, versteht sich. Dies ist im beigefügten Video veranschaulicht.
Wegen Bennis Handicaps mussten wir schon immer nach alternativen Wegen suchen und oft dafür kämpfen, um ihm ein „gutes Leben zu Hause“ zu ermöglichen und ihn nicht in eine Sondereinrichtung oder in ein Heim abgeben zu müssen, so wie z.B. aktuell mit einem Gesetzesvorhaben von Minister Spahn für Beatmungspatienten beabsichtigt ist.
Überhaupt sehen wir das in Deutschland etablierte Cluster-System – Behinderte gehören in die Förderschule/Sonderschule, Beatmungspatienten gehören ins Heim usw. – völlig fehlgesteuert.
Es widerspricht auch der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen und dem Bundesteilhabegesetz, denn beide haben die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung und nicht ihre Fremdbestimmung als Leitlinie.
Betroffenen steht ein Wahlrecht zu und sie dürfen nicht, für den eigenen Willen kämpfen müssen. Wir fragen uns: „Wie kann sich eine Gesellschaft hin zu mehr Solidarität und Nachhaltigkeit entwickeln, wenn Andersartiges in eine Schublade weggepackt wird, Lobbyismus und Turbo-Kapitalismus den Ton angeben und Egoismus auf breiter Front anheizen? Haben nicht Politiker anfangs der Pandemie die Chancen betont, die sich jetzt für mehr Zusammenhalt böten?“
Am Scheideweg – Corona spaltet die Gesellschaft
Dafür aber wären signifikante Veränderungen auf den Weg zu bringen, die ein Verabschieden vom konsumorientierten Leben und gewohnten Lebensweisen bedingen würden. Corona und die vielfältigen Folgen, so auch soziale Verwerfungen, müssten eigentlich dazu führen, dass wir uns auf den Weg in eine Welt machen, in der sich jene gewohnte konsum- und profitorientierte einer nachhaltigen Lebensweise unterordnet. Wir befürchten jedoch, dass das Gegenteil der Fall sein wird. Wir sind an einem Scheideweg. Wird Corona die Gesellschaft (noch mehr) spalten oder schaffen wir es gemeinsam – in Deutschland, Europa, auf der Welt – den Hebel umzudrehen. Eine vielleicht letzte Chance für eine lebenswerte Welt für unsere junge Generation.
Auffällig ist, dass bei „Illner, Will, Maischberger, Plasberg, Lanz und Co“ die wirtschaftlichen Folgen von Corona weit oben auf der Agenda stehen oder z.B. Eltern zu Wort kommen, die sich nach gerade mal sechs Wochen einer Doppelbelastung mit Homeoffice und Home-Schooling aufregen dürfen – und vehement einfordern, dass sie ihre Kinder endlich wieder in der Schule abgeben können.
Selbstverständlich muss die Wirtschaft wiederaufgebaut und müssen die Wertschöpfungsketten wieder in Gang gesetzt werden. Ohne dies wird es nicht gehen, auch nicht mit Blick auf die Versorgung von Risikogruppen.
Leider aber finden Risikogruppen kaum bis gar nicht statt und wenn überhaupt, werden diese auf Menschen in Altenheimen reduziert. Noch dazu musste diese Gruppe anfangs der Pandemie dafür herhalten, um Ausgangsbeschränkungen, den Aufbau der Intensiv-Kapazitäten usw. zu legitimieren.
Rote Linie überschritten
Wenn sich in der aufgewühlten Stimmung auch noch ein demokratisch gewählter Oberbürgermeister über den Wert des Lebens alter Menschen auslässt, dann ist eine rote Linie überschritten. Alte, Pflegebedürftige, Kranke, Behinderte werden als Gruppe ausgemacht, die unser Wohlstandsleben behindert. Sperren wir sie also weg – so die Logik Palmers.
Wie werden sich die Millionen Menschen in Altenheimen und die sie Pflegenden fühlen? Und wie wird jene Community durch den Kommentar dieses Amtsträgers befeuert werden, die sich wegen der Ausgangsbeschränkungen und der Maskenpflicht ihrer vermeintlichen Freiheit beraubt sehen?
Wie werden sich in einer solch aufgewühlten Stimmung dann erst recht die weiteren tausende Risikopatienten – Junge und Alte, Krebspatienten, Menschen mit Vorerkrankungen, Behinderte, Beatmungspatienten in Heimen und zu Hause – fühlen? Das alles macht Angst!
Jetzt wäre die Chance zu einem dringend erforderlichen Wertewandel da, der von der Politik angeschoben werden müsste und auf allen gesellschaftlichen Ebenen Einzug hält, der Profitgier und dessen Lobbyismus nach hinten und signifikante Anreize für nachhaltiges Wirtschaften und qualitative Werte nach vorne schiebt.
Ohne solche grundlegenden Veränderungen wird auch der medial etwas untergegangene Klimawandel kaum (noch) aufzuhalten sein. Wohl oder übel werden später u.a. jene an den Folgen der Klimakrise zu leiden haben, die heute wegen Corona darum gebeten werden, Rücksicht zu nehmen, indem sie bspw. eine Schutzmaske tragen. „Alles hängt mit allem zusammen“, so unsere Meinung.
Ach ja, und dann sind da noch die sogenannten Verschwörungs-Erzähler, die ja jede Krise nutzen, um ihre Geschichten zu erzählen und sich im Heer der Unzufriedenen mit ihren „schlechten Märchen“ befeuern.
Was sich als „Widerstand 2020“ zurzeit etabliert, ist eine und explosive Mischung aus Rechtsextremen, Antisemiten, Impfgegnern, Verschwörungserzählern und auch Verrückten. Bei uns im Land finden sie eine politische Unterstützung in der AfD, in anderen Staaten in Despoten und Narzisten – siehe Orban, Kaczyński, Trump, Bolsonaro und Johnson.
Freiwillige Quarantäne
Wir wären übrigens sehr gerne bereit, „da draußen“ eine Schutzmaske zu tragen. Aber wir werden – bis es einen Impfstoff gibt – in Quarantäne bleiben müssen.
Derweil kämpfen wir in der Isolation mit neuen ins Haus flatternden Problemen, so z.B. mit dem § 40 Abs. 2 Sozialgesetzbuch XI (SGB XI). Denn danach dürfen die Aufwendungen der Pflegekassen für zum Verbrauch bestimmter Pflegehilfsmittel monatlich den Betrag von Euro 40,00 nicht übersteigen – meint u.a. Schutzhandschuhe, Desinfektionsmittel, Schutzmasken und mehr. Dass die Besorgung dieser Mittel in März und April (auch für uns) äußerst problematisch war, ist hinlänglich bekannt.
Weil aber auch der Mittel-Anteil durch den sonst anwesenden Beatmungs-Intensiv-Pflegedienst entfiel und weil obendrauf die Preise für solche Produkte durch die Decke schossen, traf es uns um ein Vielfaches mehr als den gesetzlich festgelegten Wert.
Unser Antrag bei der Krankenkasse auf eine effektive Abrechnung wurde mit Bezug auf das o.g. Gesetz abgelehnt. Eine Einzelfallentscheidung käme nicht in Frage.
Erwähnt sei an dieser Stelle, dass wir seit fast drei Monaten auf den Beatmungs-Intensiv-Pflegedienst verzichten und damit der Pflegekasse Tausende an Euros einsparen und weiter werden. Wo ist die Verhältnismäßigkeit und welcher Politiker kümmert sich jetzt um diese „Lücke“?
Wir werden erneut Bundestagsabgeordnete, allen voran Minister Spahn und den Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses, Erwin Rüddel, anschreiben und darum bitten, dass dieses Gesetz auf die Belange der jetzigen Situation angepasst wird. Ob wir eine Antwort erhalten werden? Und welche?
Ein weiteres neues „Kampf-Feld“ ergab sich dieser Tage, als wir die von der Krankenkasse genehmigte Online-Atemtherapie über den 30. Mai hinaus verlängern wollten. „Aber die Logopäden haben doch (wieder) geöffnet und Sie könnten doch mit Benni dort hinfahren? Da muss ich erstmal nachfragen, ob das geht!“
Dass wir mit Benni in freiwilliger Quarantäne seien, fand der freundliche Mensch am Telefon schon richtig und wichtig. Aber die Verlängerung genehmigen könne er nicht. Also wieder nacharbeiten, wieder dranbleiben und wieder kämpfen!
„Das alles müssen Politiker im Bundestag auch mal behandeln und das muss auch mal in die Talk-Shows“, meint Benni – und bewirbt derweil fleißig weiter seinen Online-Vortrag für Alten- und Pflegeinrichtungen.
Dennoch, Benni ist auf der Stirn abzulesen: „Wann kommt ein Impfstoff? Ich möchte auch mal wieder raus!“